Bewusstheit statt Brauchtum – der tantrische Karneval

Ein Streifzug durch die Geschichte und Psychologie des Karnevals aus tantrischer Sicht

Tantra und Karneval? Gibt es da überhaupt eine Verbindung? Nun, auf der historischen Ebene natürlich nicht. Aber genau so, wie die westliche Kultur von bestimmten Elementen des traditionellen Tantra profitieren kann, baut auch der Karneval in Verbindung mit tantrischen Sichtweisen ein Spannungsfeld auf, in dem persönliches und sogar spirituelles Wachstum möglich ist. 

Als wir 2013 den ersten Rheinischen TantraKarneval organisiert hatten, ging es uns in erster Linie um eine ironische Gegenveranstaltung zum herkömmlichen Karneval. Je länger wir uns aber mit der Thematik befasst haben, desto mehr haben wir die Potentiale schätzen gelernt, die in der Verbindung von Tantra und Karneval stecken. Nicht zuletzt war dies auch einer der entscheidenden Gründe dafür, den Rheinischen TantraKarneval von einer Tagesveranstaltung in ein Wochenendseminar umzuwandeln.

Transformation durch Bewusstheit

Karneval polarisiert: Die Einen freuen sich das ganze Jahr auf die närrischen Tage, bei denen die Tabugrenzen verschoben sind und sie Rollen und Verhalten ausleben können, die sonst in ihrem Leben keinen Platz haben. Die Anderen würden am liebsten dem ganzen Trubel entfliehen und sehen im Karneval vor allem miefige Brauchtumsrituale, Alkoholmissbrauch und aufgesetzte Fröhlichkeit.

Viele Elemente des Karnevals sind aber durchaus dazu geeignet das psychologische Gleichgewicht zu stärken, wirken befreiend und ermöglichen persönlichkeitsverändernde Erfahrungen. Der transformierende Faktor ist die Bewusstheit: Das bewusste Eintauchen in einen Rollentausch, das bewusste Ausleben von Wünschen und Leidenschaften, der bewusste Regelverstoß, das Bewusstwerden von Sehnsüchten, die im Alltag nicht ausgelebt werden können. 

Da Tantra im wesentlichen Bewusstseins- und Bewusstheits(=Achtsamkeit)-Arbeit ist, die der persönlichen und spirituellen Fortentwicklung dient, verwenden wir beim Rheinischen TantraKarneval unsere Erfahrungen aus dem Tantra, um die Besonderheiten des Karnevals für ungewöhnliche Lernerfahrungen zu nutzen.

Göttliche Feier, Gleichheitsprinzip, Frühjahrsaufbruch und Instrument der Kirche

Der Karneval, der heute als bürgerliches Brauchtum gefeiert wird, hat jahrtausende alte Vorläufer, die in der Regel mit dem Erwachen der Natur im Frühling in Zusammenhang stehen. Meist wurde bei ausgelassenen Festen das Gleichheitsprinzip praktiziert, dass bis heute ein charakteristisches Merkmal des Karnevals ist.

In Mesopotamien wurde schon vor 5000 Jahren nach Neujahr ein siebentägiges Fest als symbolische Hochzeit eines Gottes gefeiert. Eine altbabylonische Inschrift besagt: „Kein Getreide wird an diesen Tagen gemahlen. Die Sklavin ist der Herrin gleichgestellt und der Sklave an seines Herrn Seite. Die Mächtige und der Niedere sind gleich geachtet.“ 

In Ägypten feierte man das ausgelassene Fest zu Ehren der Göttin Isis und die Griechen veranstalteten es für ihren Gott Dionysos und nannten es Apokries. Die Römer feierten Mitte Dezember die Saturnalien zu Ehren ihres Gottes Saturnus. Das Fest war verbunden mit einem öffentlichen Gelage, zu dem jedermann eingeladen war. Sklaven und Herren tauschten zeitweise die Rollen, feierten und saßen gemeinsam bei Tische, tranken und aßen, konnten jedes freie Wort wagen und überschütteten sich mit kleinen Rosen. Aus den Rosen entstand möglicherweise das in unseren Tagen bekannte Konfetti. Die Römer veranstalteten bereits farbenprächtige Umzüge, bei denen ein geschmückter Schiffswagen umhergezogen wurde.

In vielen karnevalistischen Masken, Figuren und Bräuchen scheinen sich vorchristliche Riten, beispielsweise solche der keltischen Religion, erhalten zu haben, die den Wechsel vom kalten Winterhalbjahr in das warme und fruchtbare Sommerhalbjahr beinhalten. Indem man sich als Geister, Kobolde und unheimliche Gestalten aus der Natur verkleidete und mit Holzstöcken wild um sich schlug oder mit einer Rassel oder Ratsche Krach machte, versuchte man den Winter zu vertreiben,. Bei Fastnachtsbräuchen in Tirol findet die Symbolisierung des Kampfes zwischen Licht und Finsternis, zwischen Gut und Böse, zwischen Frühling und Winter immer noch statt.
Ab dem Mittelalter wurde die oftmals ausartende Fastnacht von der Kirche geduldet, um zu zeigen, dass der „Staat des Teufels“ wie auch der Mensch vergänglich ist und am Ende Gott siegreich bleibt. Mit dem Aschermittwoch musste daher die Fastnacht enden, um die unausweichliche Umkehr zu Gott zu verdeutlichen. Während die Kirche bei gotteslästernden Szenen während der Fastnacht untätig blieb, wurde ein Weiterfeiern  in den Aschermittwoch hinein streng verfolgt. "Carne-vale" heiß übrigens „Abschied vom Fleisch“, weil in der Fastenzeit bis Ostern kein Fleisch gegessen werden durfte.

Während in den Städten die Handwerkszünfte und dort insbesondere die jungen Gesellen die Fastnacht ausrichteten, übernahm im frühen 19. Jahrhundert (vor allem im rheinischen Raum) das Bürgertum die Festveranstaltung und Karneval wurde als ein Akt des Widerstands gegen die französische Besatzung gesehen. 
Bis heute ist Karneval eine überwiegend bürgerliche Veranstaltung, wobei die ursprüngliche Fortschrittlichkeit im Brauchtum erstarrt ist. Damals wie heute spielt der Karneval die Rolle eines zeitlich begrenzten Ventils: Wer sich einige Tage straflos austoben kann, ist hoffentlich für den Rest des Jahres ruhig gestellt.

Die psychologische Seite des Karnevals

In der Psychotherapie gilt die Annahme: Wer über etwas reden kann, ist auf dem Weg der psychischen Stabilität. Oder wie es schon der alte Hippokrates vor 2500 Jahren mit dem Satz umschrieb: "Für was ich Worte habe, darüber bin ich schon hinweg". 

Beim Karneval haben die Menschen die Gelegenheit, sich selbst in einer anderen Rolle zu begegnen, sich anders mit der Welt zu unterhalten und andere Erfahrungen zu machen. Über die Wahl der Kostüme können Sehnsüchte ausgedrückt werden, kommt man leichter mit anderen Menschen ins Gespräch, erhält man besondere Aufmerksamkeit und gewisse Tabugrenzen sind verschoben. 

Unser Alltag besteht aus vielen Kompromissen, die Entscheidungen für eine bestimmte Rolle, Seite und Verantwortungen bedingen. Die zurückgestellten Seiten bleiben als unerfüllte Bedürfnisse zurück. Der Karneval bietet die Möglichkeit, aus diesen Mustern auszusteigen, einmal ohne Konsequenzen über die Stränge zu schlagen und sich abseits der Realität auszuprobieren. "Karneval ist der kontrollierte Ausbruch aus der Vernunft", sagt der Psychotherapeut und passionierte Karnevalist Wolfgang Oelsner.

Im Karneval können Erwachsene wieder so unbekümmert sein wie Kinder, für die Verkleiden ein tägliches Spiel ist und die damit lernen, sich in andere Menschen hinein zu fühlen. Tatsächlich verändert sich der Ausdruck eines Menschen, wenn er im Kostüm in eine andere selbstgewählte Rolle schlüpft. Er bewegt sich anders, spricht anders und fühlt sich auch anders. Das Körperbewusstsein und die Psyche registrieren diese Veränderungen und stellen ihm diese Erfahrungen auch später wieder zur Verfügung.

Die Grundidee des Karnevals, ist es also, eine verkehrte Welt zu präsentieren. Die erlaubte Aufhebung der Gesetze, Klassen und Normen wurde schon im Altertum als Ventil für die menschliche Psyche gesehen. Sie legitimiert das "Verrückt-sein" und erleichtert es Dinge zu tun, woran an gewöhnlichen Tagen nicht zu denken ist. Als cooler Cowboy die Krankenschwester im kurzen Rock anszusprechen, gemeinsam Schamgrenzen mit Alkohol zu senken und Körperkontakt über „Bützchen“, „Stippeföttche“ und Engtanz zu haben, ist einfacher als an gewöhnlichen Tagen.

Von Piraten, Prinzessinnen, Eishockeyspielern und Kätzchen

«Die Kostüme zeigen die Sehnsüchte, die wir im Alltag nicht ausleben können», hat der Psychologe Rolf Schmiel laut «Die Welt» in einer Studie heraus gefunden. Die meisten Menschen wählen demnach eine Verkleidung, über die man durchaus auf den Charakter des Trägers schließen könne. Die Kostümwahl ist natürlich auch abhängig von der persönlichen Tagesform, von der Witterung, von der Verfügbarkeit und von der Umgebung, in der sie getragen wird. Viele Karnevalisten tragen zudem unterschiedliche Kostüme zu verschiedenen Anlässen.

Natürlich würde der Pirat im realen Leben nicht Autos überfallen oder mit der Machete durch die Gegend rennen. Aber die die damit verbundenen Werte wie Verwegenheit, Mut und Abenteuerlust faszinieren so manchen Mann (und die Frau an ihm).

Und die sexy Katze im kurzen Rock und knappen Bikini wird in Wirklichkeit nicht jeden Mann anfallen. Aber ihr Wunsch, als Frau wahrgenommen und begehrt zu werden ist durchaus legitim.

Das Verkleiden und der Identitätswechsel hat deshalb meist nichts mit Selbstbetrug zu tun, sondern ist ein Anknüpfen an eine vorhandene innere Essenz. Es ist lohnenswert, sich einmal bewusst mit den eigenen Vorlieben für bestimmte Kostüme zu beschäftigen. Was sind die damit verbundenen Werte, Wünsche und Sehnsüchte? Wie weit lassen sich diese immer mehr im Alltag verwirklichen?

Gerade hinsichtlich Erotik und Flirten sind die karnevalistischen Tage ein Spielfeld ohne Gleichen, was sich auch in der Wahl der Kostümierung zeigt. Kostüme, die vor einigen Jahren für Karnevalsfeiern als nicht geeignet angesehen wurden, sind heute der Renner bei den einschlägigen Karnevalsläden. Die Röcke werden kürzer, das Dekolleté tiefer und „pikante“ Verkleidungen sind sehr gefragt. 

Eine interessante Typisierung der Karnevalskostüme durch den oben erwähnten Psychologen Rolf Schmiel hat «Die Zeit» in ihrer Onlineausgabe veröffentlicht: http://www.welt.de/wissenschaft/article124260111/Warum-Zombies-die-interessanteren-Menschen-sind.html

Der tantrische Karneval

Tantra beschäftigt sich mit Polaritäten. Im Spannungsfeld zweier unterschiedlich geladener Pole (z.B. männliches und weibliches Prinzip) wird Energie frei gesetzt, die für persönliches und spirituelles Wachstum verwendet werden kann. Die oben beschriebene „verkehrte Welt“ des Karnevals bietet vielfältige Ansätze, die im tantrischen Sinne ebenfalls Spannungsfelder aufbaut, aus denen sich Potentiale für die Selbsterfahrung ergeben. 

Beim TantraKarneval der Rheinischen TantraNacht kreieren wir einen geschützten Raum, in dem die Teilnehmer neue Seiten an sich ausprobieren können. In dem sie bewusst in Rollen schlüpfen können, die sie im Alltag eher nicht einnehmen können. In dem sie sich trauen etwas zu tun, was sie sonst nicht tun würden. Eine Atmosphäre der Achtsamkeit, des Respekts und der liebevollen Annahme ermöglicht es, die gemachten Erfahrungen zu integrieren und als Energiereservoir für den unweigerlich folgenden Alltag zu nutzen.

Natürlich gibt es auch eine ausgelassene Karnevalsfeier, bei der die typischen Elemente des rheinischen Karnevals wie Bützchen, Stippefötche, Dreigestirn, Büttenrede usw.  einbezogen werden – aber mit einer besonderen tantrisch-ironischen Note. Hier hat dann auch der erotische Aspekt des Karnevals seinen Platz: Achtsame Berührungen, Flirten, erotisch-kreative Kleidung, Tanzspiele, Maskerade usw.

Ralf Lieder und Anke Felice Pospiech, 2015, info@himmlisch-lieben.de